entschlüsseln, zusammenführen, sehenNils Emmerichs, Berlin
Dor Guez ist ein enigmatischer Künstler. Man kann seine Quellen analysieren, die Logik seiner Arbeit nachvollziehen und Denksysteme aufbauen. Das Mysterium liegt im Erleben seiner Werke. Es gibt vermutlich keine Rätsel, die absichtlich in das Kunstwerk eingearbeitet wären, sondern zwischen Werk und Betrachter entsteht ein Vexierspiel. Guez ruft uns mit seiner Installation Foreign Fields und der Fotografie Serie Lilies of the Field eine tiefe Erinnerung ins Gedächtnis. Es ist dieselbe Denk- und Erfahrungsbewegung, die den Kunstwerken ihre Dynamik verleiht: - die Trennung von Wirklichkeit; - das Bedürfnis nach einer sowohl umfassenden wie unbezweifelbaren Ordnung; - die Einsicht in deren (Un)Möglichkeit aufgrund der historischen, kulturellen, kommunikativen, religiösen Bedingungen; - die Kritik an unkräftigen Ordnungssystemen; - die vorläufige Beschäftigung mit dem Verlorenen aber konkretem Einzelnen; - die vorsichtige Zusammenführung zu Einheiten.
Folglich steht sein künstlerisches Werk dafür ein, sich in besonderer Weise möglichen Formen von Sichtbarkeit zu verpflichten. Fernab von vorgefassten Erwartungshaltungen oder Mentalitäten geht Dor Guez auf das zurück, was sich zeigt: Auf das Nachdenken über sein Werk folgt der denkende Austausch mit seinem Werk.
So wenig es bei Dor Guez im Sinne einer Suche nach chiffrierter Bedeutung zu entziffern gibt, so viel gibt es zu sehen. Er arbeitet an Verschiebungen, die vom Sprechen zum Zeigen, vom Lesen zum Sehen weisen. Foreign Fields zeichnet sich durch das konzentrierte Abtasten einer Betrachtungsweise aus, die auf merkwürdige Weise sowohl vertraut als auch fremd wirkt. Vordergründig kommt hier Ungewöhnliches zur Anschauung. Ist dieses des näheren Hinsehens wert?
Beim Betreten des Mittelgangs von St. Jodokus findet der Rezipient einen Text in arabischer Sprache auf dem Boden vor. Die Entscheidung des Künstlers, das Buch Ruth aus dem Alten Testament der Bibel auf dem Boden der Kirche zu zitieren, steht in Verbindung mit der in diesem Buch thematisierten Hybridisierung durch die Protagonistin. Das Buch erzählt die Geschichte von Ruth, die jüdisch wird, von ihrem Eingewöhnen und Hineinwachsen in die jüdische Gesellschaft, und davon, dass sie schließlich Mutter des israelischen Königtums wird. Ruths Geschichte beschreibt einen Prozess vom Übergang der einen religiösen und nationalen Identität hin zu einer Identität als konvertierte Jüdin und den Prozess ihrer Anpassung an die jüdische Gesellschaft.
Häufig stellt sich angesichts der Fremdhaftigkeit einer uns nicht vertrauten Sprache und deren Schrift, die Guez in seiner Präsentation erzeugt, ein gewisses Unbehagen ein. Die
Dinge gewinnen eine eigene Physiognomie und scheinen aus ihrer jeweiligen Gegenwart heraus auf uns zu schauen. Unsere kulturelle Historie besteht aus Menschen, Geschichten, Orten, Ereignissen, die sich über das Denken und die Sprache einprägen. Durch seine in sich gekehrte Herangehensweise gelingt es Dor Guez, eine kontrastreiche, persönliche Abhandlung dieses Denkens anzubieten. Das Verhältnis von Präsentation und Repräsentation wird hierbei beansprucht. Die Installation Foreign Fields zielt somit auf eine ganzheitliche Erkenntnis. Dor Guez verwendet offensichtlich konventionelles Wissen über das Verhältnis von Religion und Sprache und hinterfragt dieses visuell.
Diese künstlerische Aneignung steht in unmittelbarer Konnexion zu den Fotografien Lilies of the Field. Seine inszenierten Stillleben sind von einer Melancholie geprägt, die nicht nur in der Jetztzeit existiert. Die in der Bibel vertraute bildliche Beschreibung von Ruth in Bethlehem mit Symbolen aus der Natur steht in direkter Verbindung zu den Bildern in den Fotografien und der darin erscheinenden Vorstellung vom Heiligen Land und der Beschreibung von Natur.
Alles wird miteinander verknüpft, Narrative werden in Bewegung gesetzt. Sprache und Natur werden bei Guez aufgeladen, freigelegt und sichtbar gemacht. Durch die Art und Weise, wie er dieses Vorgehen künstlerisch kontextualisiert, verweist er jedoch darauf, wie unsere heutige Wahrnehmung von Bildern und Sprache funktioniert. Zugleich praktiziert der Künstler eine selbst auferlegte Strenge und versucht eine fokussierte, Objektivität ausstrahlende Version von Realität zu vermeiden. Seine Fotografien sind irritierend, vertraut, aufgeladen und anziehend zugleich.
Nicht nur deshalb sind Dor Guez‘ Bildwelten auf faszinierende Weise paradox: Zeichen und Motive sind erkennbar, doch was sie aufzeigen möchten, bleibt häufig bewusst offen. Es gibt Spuren, denen wir folgen, Referenzen, die wir lesen, aber am Ende ist es der präzise künstlerische Blick auf die Dinge, der uns über die Wirklichkeit und die Möglichkeiten ihrer bedingten Repräsentation nachdenken lässt. Seine Werke eröffnen neue Möglichkeiten, denn hier wird ein großes Interesse für das scheinbar Vertraute im Neuen sichtbar. Spuren der Vergangenheit tauchen unter neuen Anzeichen wieder auf. Alles bleibt, aber in abgewandelter Form, denn das Alte wiederholt sich unweigerlich im Neuen, das dann seinerseits wieder verschwindet.
Über das WerkForeign Fields
Der in Jerusalem geborene Künstler und Kunstprofessor Dor Guez entstammt einer christlich-palästinensischen Familie mütterlicherseits und einer jüdisch-tunesischen Einwandererfamilie väterlicherseits. In seinen Fotografien, Videos, Abhandlungen und Vorlesungs-Performances setzt er sich mit dem Zusammenhang von Kunst, Narrativ, Sprache und Gedächtnis auseinander. Anhand persönlicher Erfahrungen und offizieller Vergangenheitsdarstellungen hinterfragt Guez die zeitgenössische Kunst als Erzählerin ungeschriebener Geschichte(n) und ihre Rolle bei der Rekontextualisierung von Dokumenten in Wort und Bild. Seit 20 Jahren konzentriert sich seine künstlerische und akademische Arbeit sowohl auf archivarisches und fotografisches Material aus dem Nahen Osten und Nordafrika als auch auf das Erfassen von Spuren und Strukturen der Gewalt in der Landschaft.
Guez’ Installation „Foreign Fields“ besteht aus zwei Werkgruppen: „Lilies of the Field“ (2019) ist eine Fotoserie; der zweite Teil eine spezifisch für diesen Ort entwickelte Textarbeit im Mittelgang der Bielefelder St.-Jodokus-Kirche.
„Lilies of the Field“
Guez’ Fotoserie „Lilies of the Field“ stellt eine Verbindung zwischen historischem Archivmaterial, zeitgenössischer Fotografie und Performance her und lotet die tiefe geschichtliche und mythologische Dimension Jerusalems als Ort religiöser und politischer Projektion aus. Die Serie besteht aus leuchtenden, mysteriös anmutenden Abzügen von gepressten Blumen- und Pflanzenarrangements, auf die der Künstler bei Recherchen im Archiv der American Colony in Jerusalem gestoßen ist. Zu sehen ist eine Vielfalt der im Heiligen Land und im Umfeld des alten Jerusalem heimischen Flora. Als beliebte Souvenirs für Touristen und Missionare auf Pilgerreise verkörpern die gepressten Blumen verschiedene Formen der Hingabe, zum einen die der Kunsthandwerker, die die Blumen pressten, zum anderen die der Reisenden, die die Blumenarrangements als Andenken erstanden.
Die im Archiv der American Colony ausgesuchten Pflanzengebilde wirken irritierend, wie eben ein Stück Natur – in diesem Fall die Blume – nur irritieren kann, wenn es wie ein erlegtes, präpariertes Jagdwild erstarrt und in Harz konserviert ist. Nicht minder irritierend ist Guez’ Farbgebung, steht sie doch im starken Kontrast zur ursprünglichen, natürlichen Umgebung der Pflanzen. Guez sucht nach Spuren des gelben Pigments, fotografiert zunächst die Vorderseite jedes Blumenarrangements, dann das darübergelegte Blatt, das in über 100 Jahren den Großteil der Carotinoid-Pigmente der Blumen absorbiert hat. Indem er die zwei Bilder – jenes der Blumen und jenes des pigmentierten Deckblattes – übereinanderlegt, rekonzeptualisiert er die Bilder und veranschaulicht auf diese Weise die Zeit, die seit der Herstellung der Gestecke vergangen ist.
In diesem Prozess entstehen zwei Serien von Foto-Negativen, wie Guez erklärt: „Die erste Serie besteht aus Fotogrammen der Blumen selbst im Maßstab 1:1. Die zweite Serie simuliert großformatige Cyanotypien, indem das Gelb in seine Komplementärfarbe verwandelt wird. Bei Letzteren zeichnen sich in den weißen Stellen die anthocyanidin-pigmentierten Blumen des ursprünglichen Gestecks ab, die durch das restliche gelbe Pigment zu verblassen scheinen. Indem ich dem Farbpigment der Blumen mehr Aufmerksamkeit schenke als den Blumen selbst, untergrabe ich die Hierarchie zwischen dem scheinbar Authentischen und dem künstlich Erschaffenen.“
Im Hebräischen bezeichnet der Ausspruch „auf fremden Feldern grasen“ jemanden, der sich auf andere Kulturen und Überzeugungen einlässt. Das tut auch Guez’ in seinen Arbeiten: Er greift Fragen der Kultursynthese auf und würdigt die Tatsache, dass Kultur nie statisch ist, sich nie in eine einzige, vorgegebene Richtung entwickelt und daher mit dem modernistischen Klassifizierungs- und Kategorisierungsdrang unvereinbar ist.
„Foreign Fields“
Für Guez’ Installation „Foreign Fields“ wurde der Text aus dem Buch Ruth in Arabisch auf den Boden des Mittelgangs der Bielefelder St.-Jodokus-Kirche foliert. In der europäischen Öffentlichkeit wird das Arabische oft nicht in seiner ganzen, nuancierten Vielfalt wahrgenommen. Das hält Guez den Betrachtern vor Augen, von denen viele fälschlicherweise annehmen, das Arabische sei zwangsweise mit einer Religion oder Kultur verbunden. Der Text wird von der Mehrheit der Gemeinde zunächst als orientalisch-poetische Dekoration wahrgenommen – und erhält prompt eine neue Bedeutung, sobald offenbart wird, dass das Buch Ruth sowohl in der jüdischen Bibel (Tanach) als auch in der christlichen (Altes Testament) steht, und dass darin die Vorstellung der Hybridisierung, des Mischens und Erschaffens neuer Formen von zentraler Bedeutung ist.
Dabei erscheint die arabische Sprache in einer mitteleuropäischen Kirche heute relevanter denn je, zumal wenn man sich ansieht, welchen gesellschaftlichen Wandel Europa – und Deutschland im Speziellen – in den letzten Jahren vollzogen hat. Die arabische Sprache galt im Übrigen auch in der Kirche, in der Guez’ selbst großgeworden ist, als subversiv, denn im Nahen Osten ist Griechisch die dominante Liturgiesprache. Weil die Glaubensgemeinschaft aber kein Griechisch spricht, lässt der Priester die Predigt dolmetschen. Übersetzung und Vermittlung sind zentrale Themen in den Arbeiten Dor Guez’, und man darf davon ausgehen, dass eine solche Installation in vielen arabischen Zentren in Israel undenkbar wäre.
Dass Guez in seiner Installation das Buch Ruth in voller Länge zitiert, ist gewissermaßen ein Meta-Akt, in dem sich das Thema der Hybridisierung – verkörpert durch die Protagonistin, die Moabiterin Ruth – widerspiegelt. Das Buch handelt von der konvertierten Jüdin Ruth, die in der jüdischen Gesellschaft Fuß fasst und Anerkennung findet, schließlich zur Ahnmutter der israelitischen Monarchie wird.
Im Judentum ist es üblich, Ruths Geschichte zu Pfingsten, dem Erntedankfest, vorzutragen, weil sich wichtige Begebenheiten in dem Buch auf dem Feld zur Erntezeit ereignen. Viele europäische Maler in der Kunstgeschichte haben Ruth in einem fremden Feld mit Getreideähren in der Nähe ihres Kopfes oder auf demselben dargestellt. Bei ihr besteht die Hybridisierung im Wechsel der religiösen und nationalen Identität zu einer konvertierten, in die israelitische Gesellschaft integrierten Jüdin. In „Lilies of the Field“ erkennen wir dieselbe Naturbeschreibung und Wahrnehmung des Heiligen Landes wie in den bekannten bildlichen Darstellungen Ruths.
Beide Werkserien des Künstlers greifen das Konzept der Herkunft und der sprachlichen Interpretation auf. Wir stoßen darin auf insgesamt vier Sprachen: eine westgermanische (Englisch) und zwei romanische (Italienisch, Französisch) in „Lilies of the Field“ sowie eine semitische (Arabisch) in der Textinstallation. Beide Installationen bedienen sich des Mediums der Sprache, um auf eine Diskrepanz hinzuweisen – nämlich die zwischen Original und Übersetzung, zwischen Darstellung und Authentizität. In „Lilies of the Field“ gerät die Vorstellung eines Ortes zu einem verklärten Phantasiebild der Natur; in „Foreign Fields“ besteht die Subversion in der Darstellung der arabischen Sprache in einer deutschen Kirche. Beide Arbeiten werfen Fragen zum Wesen der Interpretation auf: Was geht verloren, wenn Informationen aus einer bestimmten Perspektive in eine andere Form gebracht werden? Der Drang, Menschen feinsäuberlich in Nationen einzuordnen und ihre Hybridität schlichtweg zu negieren, wird der heutigen Realität jedenfalls nicht gerecht, sind wir doch alle Hybride.
Über den KünstlerDor Guez
Dor Guez' dorguez.com promovierte 2014 an der Universität Tel Aviv und unterrichtet seit 2018 an der Bezal'el-Akademie für Kunst und Design. Er ist Gründer des Christian-Palestinian Archive (CPA), Leiter des Masterprogramms für Bildende Kunst an der Bezal'el-Akademie und Kodirektor von Seaport: Mediterranean Curatorial Residency.
Bisher wurden international acht Kataloge zu Dor Guez’ Arbeiten herausgegeben, etwa von Distanz, der New England Press und der A. M. Qattan Foundation. Seine Werke wurden in über 40 Einzelausstellungen weltweit gezeigt: MAN Museo d’Arte della provincia di Nuoro (2018); Depo, Istanbul (2017); Museum for Islamic Art, Jerusalem (2017); Museum of Contemporary Art, Detroit (2016); Institute of Contemporary Arts, London (2015); Center for Contemporary Art, Tel Aviv (2015); Rose Art Museum, Brandeis University, Massachusetts (2013); Artpace, San Antonio (2013); The Mosaic Rooms, Centre for Contemporary Arab Culture & Art, London (2013); KW Institut für Zeitgenössische Kunst, Berlin (2010); Petach Tikva Museum of Art (2009).
Dor Guez hat auch an zahlreichen Gruppenausstellungen teilgenommen: Museo de Arte Moderno de Buenos Aires (2016); North Coast Art Triennial, Dänemark (2016); Weatherspoon Art Museum, Greensboro, North Carolina (2015); 17., 18. und 19. Biennale Zeitgenössischer Kunst Videobrasil, São Paulo (2011, 2013, 2015); 8. Berliner Biennale für zeitgenössische Kunst (2014); Cleveland Institute of Art (2014); Triennale di Milano (2014); Centre of Contemporary Art, Torun (2014); Tokyo Metropolitan Museum of Photography (2014); Maxxi-Museum, Rom (2013); Palais de Tokyo, Paris (2012); 12. Istanbul Biennale (2011); Museum für Moderne Kunst, Ljubljana (2010).