fryj-te-frysh-frymeÜber das Werk
fryj, të frysh, frymë – Es ist nur ein Hauch
eine Einordnung von Arie Amaya-Akkermans
Rituale, so argumentiert Byung-Chul Han in seinem Buch „Vom Verschwinden der Rituale“ (2019), sind symbolische Handlungen, die eine Gemeinschaft ohne Kommunikation hervorbringen. Ohne nostalgisch zu werden, beschreibt der koreanisch-deutsche Philosoph, wie Rituale und Symbole allmählich aus der modernen Welt verschwinden, und wie dieses Verschwinden dazu führt, dass unser Dasein ein stückweit seinen Halt verliert: „[Rituale] verwandeln das In-der-Welt-Sein in ein Zu-Hause-Sein. Sie machen aus der Welt einen verlässlichen Ort. Sie sind in der Zeit das, was im Raum eine Wohnung ist. Sie machen die Zeit bewohnbar.“
Als Ort der Zusammenkunft ist die Kirche einer der letzten Orte, der unserer Welt in der heutigen Ära des Unmittelbaren, des Internets und der Kurzlebigkeit einen Ort für die Aufmerksamkeit, für ein kontemplatives Zur-Ruhe-Kommen und für die Stille bereithält; ein Ort stiller Gemeinschaft, wie sie aus der rituellen Wiederholung entsteht. „Kunst im Kreuzgang“ in der Kirche St. Jodokus in Bielefeld, die zu einem früheren Franziskanerkloster gehört und 2011 renoviert wurde, ist ein Format für Ausstellungen und Interventionen zeitgenössischer Künstler*innen. Der Austausch über Kunst und Ideen führt direkt hin zur Frage nach der Grenze zwischen dem Sprechen und der Stille, zwischen dem Symbolischen und der Bezeichnung, letztlich zwischen den verschiedenen Formen der Zeit – absolute Präsenz, Gleichzeitigkeit, Ewigkeit und das Jetzt.
Erdiola Kanda Mustafaj zeigt mit ihrer Ausstellung „fryj, të frysh, frymë – Es ist nur ein Hauch“ in der Kirche eine Version eines Reinigungsrituals, das ihre albanische Großmutter in einer mysteriösen Weise nach einer mündlichen Überlieferung vollzieht: ein vielschichtig magischer Spruch in Albanisch, Türkisch und Arabisch, gesprochen, ohne ihn ganz zu verstehen, doch pflichtgetreu erinnert und wiederholt – und der uns aus der Welt der sprachlichen Verständigung in die des Rätsels schreiten lässt.
Erdiola Kanda Mustafajs Arbeit entfaltet sich vor dem Hintergrund einer vielschichtigen post-osmanischen Geschichte: Die Großeltern der Künstlerin flüchteten von Griechenland nach Albanien im Zuge der gewaltsamen ethnischen Säuberungen, mit denen nach dem Zweiten Weltkrieg beinahe sämtliche, im osmanischen Zeitalter dort beheimateten Minderheiten aus der nordgriechischen Region Epirus vertrieben wurden. Çamëria, so der historische Name für diese ethnisch durchmischte und von der Überlagerung griechischer und albanischer Identität geprägte Region, existiert heute genauso wenig wie viele dieser Minderheiten. Das Gebiet wurde durch und durch hellenisiert, entsprechend einer Praxis, die auch in anderen, neu entstandenen Staaten auf dem Balkan verfolgt wurde und eine einzige, ungebrochene nationale Identität favorisierte.
Das titelgebende Video basierend auf der Aufnahme des Rituals mit der Großmutter sowie einer parallelen Performance der Reinigung durch Wasser und Feuer stellt verschiedene Wege der Erinnerung und unterschiedliche Zeitlichkeiten nebeneinander. Der nebulöse Klang, der sacht durch den Kreuzgang hallt, hüllt die Besucher:innen ein und führt sie in Richtung jener durchlässigen Grenze, an der das Sprechen in die Stille übergeht.
Die Künstlerin, die später nach Italien emigrierte, wurde in Albanien geboren, und zwar in einer diffusen Zeit des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie, mit all den Unzufriedenheiten, die in einem solchen Wandel entstehen. Für sie sind die Klänge der albanischen Çamen und das hermetische Ritual mit einem Land der Erinnerung assoziiert: entfernt, formlos, ungreifbar.
Ein zweites Video dreht das Ritual um und befragt es: Die Künstlerin versucht, auf einer Wasseroberfläche eine Flamme zu entfachen durch ein aus der Tiefe aufsteigende natürliche Gas. Sie rezitiert ein Gedicht und etabliert so eine die Zeit überbrückende Verbindung mit den vielsprachigen Beschwörungen ihrer Großmutter. Zwei Momente in der Zeit überlagern sich, ununterscheidbar und mysteriös. Entkoppelt von der chronologischen Zeit wird ein unzerstörbares Band über die Generationen hinweg geknüpft.
Eine Eisenskulptur am Ende des Kreuzgangs invertiert schließlich die logische Abfolge des Rituals: Am Fuße der Arbeit leuchtet im Wasser ein schwaches Licht und taucht die Gesichter derer, die es beim Nähertreten aktivieren, in einen sanften Schimmer.
Die unterschiedlichen Abläufe und Bewegungen der Ausstellung „fryj, të frysh, frymë – Es ist nur ein Hauch“ – vom sich veränderden Wasser über die formlosen Wege des Klangs durch den sakralen Raum bis hin zu einer steten Kraft der Hand – schaffen einen unregelmäßigen Rhythmus, eine aus den Fugen geratene Zeit: ein Kontinuum zwischen beständigen Orten und flüchtigen Erscheinungen.
Als analytisches Modell für die komplexe und flüchtige Struktur der Erinnerung fungiert dabei die synästhetische Erfahrung. Immer wieder hat sich Erdiola Kanda Mustafaj in ihren Arbeiten mit der komplexen visuellen Topologie verschiedener Landschaften und Klanglandschaften auseinandergesetzt, verbunden damit, wie Erinnerung im Moment der Entortung freigesetzt wird. In den Worten der Künstlerin: „Von dieser Vorhersage der Kräfte bleibt nichts anderes übrig als Fragmente, die unweigerlich zur Konstruktion neuer Erinnerungen führen, und die das Alte dabei womöglich vor dem Vergessen bewahren.“
ueber-die-kuenstlerinÜber die Künstlerin
Erdiola Kanda Mustafaj www.erdiolamustafaj.com ist eine albanisch-italienische multidisziplinäre Künstlerin, die derzeit in Paris ansässig ist. Durch eine Kombination von visueller und medialer Kunst, von Installation bis zur Klangkunst, schafft sie imaginäre Landschaften, die die unbestimmte und flüchtige Dimension von Gesellschaften, Gemeinschaften, Orten und historischen Ereignissen verkörpern. Die Künstlerin eignet sich Quellen aus persönlichen Archiven und kollektiven Erinnerungen an und beschreibt sie neu, um die intellektuelle und auch politische Geschichte ihres Landes zu diskutieren. Nach ihrem Abschluss in Photographie und Visuelle Kommunikation an der Cfp Bauer in Mailand wurde sie ausgewählt für die Residency „Beyond the image“ (2019) gefördert von Shkodra Arthouse und dem Marubi Museum in Shkodar (AL). Später stellte sie aus für die „Rencontres de la jeune photographie internationale“ (2022) kuratiert von François Cheval in der Villa Pérochon in Niort (FR), Photoxenia in Kreta (GR) und schließlich in Fuzhou (China). Sie lebt und arbeitet zwischen Paris, Italien und Albanien.
termineTermine
Öffentliche Führungen
So, 23. März um 12:45 Uhr
So, 06. April um 12:45 Uhr
So, 13. April um 12:45 Uhr
Nachtansichten
26. April ab 18 Uhr
Künstleringespräch
Mo, 28. April um 19:15 Uhr
Finnisage
16. Mai um 19 Uhr
Führungen auf Anfrage an
Jodokus@katholisch-bielefeld.de